08 Sep Monet und der Lokführer Mielsch
Zu alt, zu jung, zu früh, zu spät: Richard Mielsch* ist eindeutig zu alt, als er sich auf seinen Traumjob bei der Deutschen Bahn bewirbt. Mit über 50 Jahren und offensichtlicher Überqualifizierung wird er abgelehnt. Nach drei Jahrzehnten Berufsleben, gut bezahlt aber zunehmend unzufrieden, war ihm sein Kindertraum wieder in den Sinn gekommen, ein außergewöhnlich bewegendes Motiv: wie einst sein Großvater will er Lokführer werden.
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Claude Monet: Bahnhof Saint Lazare in Paris, Ankunft eines Zuges, 1877, Quelle: wikipedia
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[spacer] [center_heading]Bewegende Motive[/center_heading]
Ein bewegendes Motiv suchte auch Claude Monet** in den 1870er Jahren. Er wollte keine historischen Themen malen, sondern Zeitgemäßes abbilden, das, was die Menschen alltäglich beschäftigt:
So wie die neuen Bahnhöfe und die Eisenbahn. Die Menschen erfasste geradezu ein Mobilitätsrausch. Nun war es möglich, im Vorort zu wohnen und in Paris zu arbeiten. Von Paris aus war man viel schneller am Meer – die Urlaubsorte boomten. Zahlreiche Geschäftsideen wurden erst möglich durch die Schnelligkeit von Güter- und Personenverkehr.
Doch Monet interessierte sich nicht für die technischen Details. Er wollte sichtbar machen, wie sich der Dampf der Lokomotive im künstlichen Licht des Bahnhofs verbreitet. Den gegenwärtigen Augenblick wollte er in seinen Bildern einfangen, den Dampf der Industrialisierung.
[spacer] [center_heading]Hindernisse auf dem Weg[/center_heading]
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Mielsch informiert sich, die Deutsche Bahn hat tatsächlich einen Mangel an Lokführern. Er bewirbt sich – und fliegt mit seiner Freundin in Urlaub nach Indien.
Ayurveda soll erholsam sein, aber eine Nachricht wischt alles wieder beiseite: Mielschs Bewerbung sei abgelehnt. Er sei zu alt und außerdem überqualifiziert. Aus der Kindheitstraum?
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Monet stand vor einem ganz anderen Problem: Wenn die Züge eingeheizt hatten und der Dampf sichtbar geworden war, fuhren sie sofort los. Er hatte zu wenig Zeit und zu wenig Dampf. War das doch kein geeignetes Bildmotiv? Sind die Zeiten doch zu rasant für einen Maler?
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[spacer] [center_heading]Charakter-Züge[/center_heading]
Was verbindet den Maler und den Wunsch-Lokführer? Beide sind von ihrem Wunschziel so überzeugt, dass sie alles in Bewegung setzen, um ihr Ziel zu erreichen. [clear]
[text_dropcap]1[/text_dropcap]Mit Mut fordern beide die Auseinandersetzung ein. [clear]
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Mielsch ruft aus dem Indien-Urlaub in Deutschland an, um zu erfahren, warum seine Bewerbung abgelehnt wurde. Seine Überqualifizierung lässt er nicht gelten, er bleibt hartnäckig und wird zum Vorstellungsgespräch eingeladen.
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Monet braucht mehr Dampf, keine Frage. Und er braucht mehr Zeit. Wer könnte ihm hier geholfen haben? Der Zugführer? Der Einheizer der Dampfmaschine?
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[text_dropcap]2[/text_dropcap]Sie nutzen ihre Kreativität, um ihr Ziel auf komplett unkonventionelle Weise zu erreichen.
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Mielsch ist überzeugt: sachliche Informationen alleine reichen nicht aus, um von der Bahn eingestellt zu werden. Für das Vorstellungsgespräch sammelt er alles, was ihm als Argument dienen kann: Er recherchiert Beispiele, in denen ebenfalls eine Ausnahme gemacht wurde. Er ist bereit, auch unternehmerische Risiken zu übernehmen. Und er inszeniert eine höchst emotionale Argumentationsstrategie.
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Monet wollte den gegenwärtigen Augenblick einfangen, den Dampf, die Schnelllebigkeit, den Lärm und wählte die Methode der Übertreibung, um das Gewöhnliche hervorzuheben. Er wollte noch mehr Dampf, und er wollte noch mehr Zeit, wenigstens ein bisschen mehr. Mit seiner überaus schnellen Maltechnik, typisch impressionistisch, konnte er das seine dazu tun.
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[text_dropcap]3[/text_dropcap]Mit ihrer Begeisterung bringen sie Menschen dazu, ihre Regelvorgaben beiseite zu schieben und ihnen ganz konkret zu helfen.
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Mielsch sitzt im Vorstellungsgespräch als Ingenieur den Ausbildern gegenüber, die Lokführer einstellen, und er weiß: jetzt gilt es. Er bringt seine Argumente vor, und dann präsentiert er es: ein sehr altes Foto, vermutlich das älteste Bewerbungsfoto, das die Bahn-Mitarbeiter je zu Gesicht bekamen! Ich stelle mir ein leicht vergilbtes und abgegriffenes Foto vor, das eine recht alte Lokomotive zeigt mit einem Lokführer und einem Kind: Mielsch mit seinem Großvater.
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Wir wissen nicht, wie Monet es geschafft hat, aber er hat es geschafft:
Der Heizkessel der Lokomotive wurde eingeheizt wie noch nie, der Dampf sammelte sich unter dem Glas-Stahl-Dach des Bahnhofs Saint Lazare. Monet konnte malen und die Dynamik der Dampflokomotive auf die Leinwand bringen – während der Zugführer und die Fahrgäste warteten. Der Zug fuhr verspätet ab.
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Claude Monet bannte die Industrialisierung ins Bild. Zeitgenossen berichteten, beim Anblick der Gemälde hätten sie das Gefühl, mittendrin zu sein, die Züge auf den Gleisen rumpeln zu hören und den Dampf der Lokomotiven zu spüren.
Und Richard Mielsch? Er hat es geschafft, seit 1. September beginnt er seine Ausbildung zum Lokführer bei der Deutschen Bahn. Congratulation!
Wie können uns Monet und der Lokführer Mielsch inspirieren?
Kreativität, Mut und Begeisterung sind keine Begabung. Es sind Eigenschaften, die in uns stecken und darauf warten, von einem großen Bild und einem starken Motiv erweckt zu werden.
Nicht immer sofort, wie bei Richard Mielsch braucht es zuweilen Jahre, bis das innere Bild kraftvoll und zunehmend realistisch erscheint. Aber der Anstoß ist meist ein ganz konkreter. Die Zugfahrt zur Berlinale im Februar? Oder unsere TGV-Fahrt nach Paris im Dezember?
Es ist ganz wunderbar, in der FAZ über einen Menschen zu lesen, den ich bei einem meiner MANAGEMENT BY ART-Tage begleiten durfte.
Welches Bild steckt in Ihnen?
[hr /]
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.9.2017, S. 11; Link zum FAZ Online-Teaser
*Die FAZ hat seinen Namen in Richard Mielsch geändert. ** Claude Monet heißt Oscar-Claude Monet, seine Eltern nannten ihn Oscar.